Unvergessliche Begegnungen – Bericht einer kleinen Reisegruppe

Das 30jährige Jubiläum der Städtepartnerschaft mit Petrosavodsk wurde bereits das ganze Jahr über mit einem reichhaltigen Programm und zahlreichen Veranstaltungen gefeiert. Im Tagblatt war allerdings außer dem Bericht über den Besuch des Tübinger Chors „Prresto“ kaum etwas darüber zu lesen. Vermutlich wissen auch viele Tübingerinnen und Tübinger wenig über diese Partnerschaft – ebenso wenig wie die kleine Reisegruppe, die das Jubiläum zum Anlass nahm, Petrosavodsk nun doch einmal kennenzulernen. Sie folgte dem Aufruf der West-Ost-Gesellschaft zu einer 1-wöchigen Reise in die russische Partnerstadt. Dass noch 3 Menschen der „1. Stunde“ teilnehmen würden, ahnten die 5 Neulinge nicht. So wurde aus der Reise in eine inzwischen moderne Stadt im Norden Russlands auch eine Reise in die Vergangenheit, in jene Zeit, als ein Lustnauer Lehrer und Amateurfunker Ulrich Bihlmayer einen Funkspruch aus Petrosavodsk auffing, einen Hilferuf sozusagen: Es fehle an Nahrungsmitteln und warmer Kleidung. Was dann folgte, ist ebenfalls kaum bekannt: Die Firma Schweickhardt schickte einen ersten Hilfstransport los. Die Spendenfreudigkeit der Tübinger Bürger ließ weitere Transporte folgen. Schließlich übernahm die Stadt Tübingen die Hilfstransporte mit ihren eigenen Fahrzeugen, die eigens dafür umgerüstet werden mussten, und mit Peter Knöller, dem ehemaligen Leiter des städtischen Fuhrparks. Er begleitete selbst mehrere Konvois, und er ist es auch, der nun mit seinen Fotos von damals den Jubiläums-Fotowettbewerb in Petrosavodsk und damit diese Reise gewonnen hat.

Trotz Schwierigkeiten und Hindernissen (Schotterstraßen, Schnee, Zoll …), führte er mehrere Hilfstransporte durch. Neben Hilfsgütern wurden auch teilweise hohe Geldspenden z. B. für Kliniken mitgegeben. Die 1500 km lange Fahrt dauerte eine ganze Woche. Doch am Ziel angekommen, wurden er und seine Begleiter mit offenen Armen empfangen. Schon damals gab es viele Menschen in der karelischen Hauptstadt, die Deutsch sprachen. Die Menschen waren dankbar, die Hilfsbereitschaft in Deutschland war groß. Glasnost, Aufbruchstimmung und die seit 1989 offizielle Städtepartnerschaft zwischen Petrosavodsk und Tübingen boten das Umfeld, in dem man Kontakte knüpfen wollte und auch konnte. Alte Feindseligkeiten sollten vergessen werden, man wollte sich einfach als Menschen begegnen! Maßgeblich vorangetrieben wurde die Partnerschaft von Ernst Moritz Friedrichs und Erika Braungardt-Friedrichs, beide ebenfalls Teilnehmer der jetzigen Jubiläumsreise.

Damals entstanden zahlreiche Verbindungen und Freundschaften. Mit Hilfe der Amateurfunker konnten die Kontakte von Beginn an aufrecht erhalten werden. (Briefe waren 6 Wochen unterwegs.) Als Dank für die Hilfsbereitschaft erhielt die Stadt u.a. spezielle rote Pflastersteine, die an der Auffahrt zur Dorfackerschule in Lustnau verlegt wurden. Ende 1997 war in Petrosavodsk die Versorgungslage besser, die Transporte wurden zugunsten von Geldspenden eingestellt. Bald danach kam die politische Abkühlung, das wieder aufflammende Misstrauen zwischen den Ländern und die Frage: Werden die Freundschaften halten? Wird die menschliche Ebene stark genug sein um die politische Eiszeit zu überstehen? Auch unsere Reiseteilnehmer fragten sich, wie die Begegnungen heute wohl verlaufen würden. Doch die anfängliche Skepsis war schnell verflogen.

Es war wunderbar, mit welcher Herzlichkeit und Gastfreundschaft wir empfangen, verköstigt und begleitet wurden. (Die meisten von uns waren in Gastfamilien untergebracht, denen sie entweder schon freundschaftlich verbunden waren oder wo sich eine neue Freundschaft entwickelte). Die russischen Vertreter des Petrosavodsker Büros hatten ein umfangreiches, interessantes Programm für uns vorbereitet: Treffen der Freunde in der Kunstschule mit musikalischen Darbietungen und folkloristischen Tanzvorführungen, Vernissage der Fotoausstellung und Festreden zum Jubiläum (in perfektem Deutsch!). Neben einem Stadtrundgang mit Besuch des Puppentheaters und des Nationalmuseums der Republik Karelien gab es eine Schifffahrt über den Onega-See (auch im Sommer nur 12 Grad!) zum Freilichtmuseum der Insel Kishi und einen Ausflug in die unendlichen karelischen Wälder mit Wasserfall und russischer Sauna. Alles unter einfühlsamer, perfekt deutsch sprechender Führung von Tanja und der Rundumversorgung mit selbstgemachten karelischen Köstlichkeiten (eingelegter Fisch und Piroggen) von Ilona und Luda! Auf dieser Fahrt kamen wir an Dörfern vorbei, bestehend aus kleinen Holzhäuschen mit kleinen Gärtchen, die sehr gemütlich und idyllisch anmuteten, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Eine völlig andere Welt als die der modernen 280tausend-Einwohner-Stadt Petrosavodsk.

Wir waren nun gespannt auf den Empfang im Rathaus, wo uns die stellvertretende Oberbürgermeisterin, der Baubürgermeister, die Sozialbürgermeisterin und weitere Verwaltungsangestellte begrüßen und ihre Stadt und die Arbeit ihrer Kommune vorstellen wollten. Sie beantworteten unsere Fragen und bestätigten teilweise unsere eigenen Eindrücke vom heutigen Petrosavodsk: Eine europäische Stadt wie viele andere: breite Promenaden mit Kunst-Installationen, Sportparcours, Parks, große Einkaufszentren, viel Verkehr (sämtliche Automarken, auch zahlreiche SUVs), die Hauptverkehrsstraßen meist gut ausgebaut, aber Baustellen überall. (Frost setzt dort den Belägen zu.) So traf man auch auf den Gehwegen auf gefährliche Stolperstellen und auf der Uferpromenade konnte man plötzlich vor einem 50 cm tiefen Loch im Asphalt stehen, ohne Absperrung oder Warnung. Das Sicherheitsbedürfnis in Petrosavodsk scheint weniger ausgeprägt zu sein. Neben Plattenbauten findet man schöne alte Gebäude, häufig mit erheblichem Sanierungsbedarf. Daneben stehen neue Wohnsiedlungen, städtebaulich ansprechend, mit grünen Freiflächen und Spielplätzen. Neue Häuser werden gedämmt, man hat den Flächenverbrauch (wohl auch die steigenden Preise) im Blick und baut hoch. Abgesehen von der Energiegewinnung durch Wasserkraft scheinen erneuerbare Energien kaum eine Rolle zu spielen, so legt man z.B. die Sümpfe trocken und heizt mit Torf.

In der Nationalbibliothek

Erfrischend war das Treffen mit Schülerinnen und Schülern der Deutsch-Klasse des Dershvinski Lyzeums, die für uns Tee mit karelischen Piroggen und Bonbons vorbereitet hatten und die uns fragten, ob wir auch so viele Baustellen hätten. Sie berichteten u.a., dass es inzwischen nur noch 2 Stunden Deutsch pro Woche gebe, was zumindest ihre Lehrerin sehr bedauerte. Was auffiel ist, dass die Kunst einen sehr viel höheren Stellenwert hat als bei uns.

Die Begegnung mit Studentinnen und Studenten des Instituts für Fremdsprachen der Petrosavodsker Staatsuniversität stellte einen weiteren Höhepunkt dar. Sehr lebendig rezitierten sie deutsche Gedichte und hörten erstaunt die auf deutsch gehaltenen Vorträge der Pioniere über die Anfänge der Partnerschaft. Die junge Generation hat kaum noch eine Vorstellung von den Lebensverhältnissen in ihrer Heimatstadt um 1989, was nicht verwundert, hat sich doch seither das Leben stark verändert. So kannten sie z.B. den Namen „Leningrad“ nicht, als Peter Knöller auf der alten Landkarte seine damalige Route aufzeigte.

Wir hätten alle noch viele Fragen gehabt, der Abschied von den russischen Freunden kam viel zu schnell. Ein fulminantes Abschiedsessen mit Vodka und gegenseitigem Versprechen, auf jeden Fall in Kontakt zu bleiben, setzte den vorläufigen Schlusspunkt dieser Begegnungen.

Den letzten Tag der Reise verbrachten wir in St. Petersburg – eine traumhaft schöne Stadt! Doch konnte sie die Eindrücke von den Menschen in Petrosavodsk nicht toppen. Ihre Herzlichkeit und Gastfreundschaft wird uns in ganz besonderer Erinnerung bleiben. Der Verein „West-Ost-Gesellschaft“ wird seinem Ziel „… auf beiden Seiten Vorurteile und Befangenheit abzubauen, … und die Verständigung zwischen den Völkern zu fördern …“ mehr als gerecht! Es lohnt sich, diesen Verein weiterhin tatkräftig zu unterstützen. Wir sind seinen Vorsitzenden Lilia Künstle in Tübingen und Ilona K., Tatjana B. und Boris K. in Petrosavodsk für ihren unermüdlichen Einsatz sehr dankbar. Wir sind alle Mitglied geworden!

Ingrid Haßberg